Junghirten auf der Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

29. Aug. 2018 · Sommeraktivitäten | Kultur

Zwei Kleinhirten und ihr Sommer auf der Alpe Bärgunt

Titus Moosbrugger (11) und Magnus Huber (12) sind wieder auf die Alpe Bärgunt gegangen, um die größte Herde im Kleinwalsertal mit 280 Tieren zu hüten.

In den Städten hat Pokémon-Go im letzten Sommer viele Kinder in seinen Bann gezogen und auf die Jagd virtueller Monster geschickt. In den Walser Bergen dagegen haben einige Kinder und Jugendliche ihre Sommerferien als Hirten verbracht. Auch Titus Moosbrugger (11) und Magnus Huber (12) sind wieder auf die Alpe Bärgunt gegangen, um die größte Herde im Kleinwalsertal mit 280 Tieren zu hüten. Für Titus ist es bereits der vierte Sommer als Kleinhirte, für Magnus der dritte. Nüüs hat die beiden den Sommer über begleitet, um herauszufinden, warum sie so sehr für das Leben auf der Alp brennen und aus freien Stücken den Komfort zuhause für die Einfachheit in den Bergen aufgeben. 

Kühe auf der Hochalpe | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Es ist ein kühler, nebliger Samstagmorgen Mitte Juni, als sich die Kleinhirten rund um Großhirte Wolfgang Ott zu ihrem ersten gemeinsamen Einsatz in diesem Sommer auf der Bärgunthütte (1.408 m) treffen. Später Schnee und unbeständiges Wetter haben den Beginn des Alpsommers etwas verzögert. Aber heute ist Anreise. Der größte Teil ihrer Sommergäste wird aus dem Allgäuer Unterland mit großen Viehtransportern ins Kleinwalsertal gebracht. Vom Parkplatz in Baad werden die Tiere von ihren Bauern und Helfern in Richtung Bärgunthütte getrieben, die erste Station ihrer Sommerfrische. Dort werden sie in die Obhut von Wolfgang und seinem Team gegeben. Titus, Magnus, Wolfgangs Söhne Elias und Simon sowie sein Neffe Martin treffen letzte Vorbereitungen.

Der Klang der Schellen eilt der ersten Herde voraus und die jungen Hirten bringen sich, ausgerüstet mit ihren Stecken, in Position. Eine Herde nach der anderen trifft ein und bezieht die Weide unterhalb der Bärgunthütte. Etwas Unruhe liegt in der Luft: Bei den Tieren, die sich in der großen Herde mit vielen neuen Gesichtern akklimatisieren müssen und es zum Teil auch noch nicht gewohnt sind, frisches Gras zu fressen. Aber auch den Hirten ist eine leichte Anspannung ins Gesicht geschrieben. Noch kennen sie ihre Schützlinge und ihre Eigenheiten nicht, so landet Titus beinahe selbst im Bach, als er einen Ausreißer einfängt.

Hirten auf der Hochalpe Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Wolfgang (49) ist der Fels in der Brandung. Seit 28 Jahren ist die Alpe Bärgunt seine Leidenschaft. Er ist die dritte Generation einer Hirtenfamilie, sein Blick wurde von klein auf geschult und er hat ein feines Gespür für die Tiere und ihre unterschiedlichen Charaktere entwickelt. Viele der Ankömmlinge kennt er aus dem letzten Sommer. Die Alpe Bärgunt ist eine der ältesten und größten in Vorarlberg. Das weitläufige Alpgebiet, dessen Hochweiden sich bis kurz vor die Widdersteinhütte (2.009 m) erstrecken, wurde erstmals vor 500 Jahren urkundlich erwähnt.

Seit der Besiedelung des Kleinwalsertal im 13. Jahrhundert war die Alpwirtschaft die wichtigste Versorgungsquelle der Walser. Alte Chroniken sprechen von der „Alpe als Brotkorb der Bauern“. Mit zunehmendem Tourismus in den 1950er-Jahren wurde die Alpwirtschaft als wichtigster Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber abgelöst. Viele Alpen wurden aufgelöst, auch weil es immer schwieriger wurde, für die anstrengende Arbeit auf der Alp Nachwuchs zu finden. Während es 1945 noch 50 bewirtschaftete Alpen waren, sind es heute nur noch 35 im Kleinwalsertal, wobei sich natürlich auch der Viehbestand deutlich verändert hat und die Anzahl der gehaltenen Milchkühe deutlich zurückgegangen ist. Für Wolfgang gab es aber nie eine Alternative. Sommer wie Winter draußen zu sein, seine Verbundenheit mit der Natur leben zu können und sich um die ihm anvertrauten Tiere zu kümmern, ist für ihn pures Glück. Und umso mehr freut er sich, dass mit Magnus und Titus und auch in seinen eigenen Reihen eine neue Generation Hirten heranwächst.

Hochalpe Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Bis zum sehnsüchtig erwarteten Ferienbeginn sind es noch zwei Wochen. Dann ziehen die Kleinhirten mit Zahnbürste, Bergschuhen und ein paar warmen Klamotten auf der Bärgunthütte ein. Geschlafen wird im Matratzenlager. Mit fließend Wasser und Strom ist es zwar die komfortablere Unterkunft, doch das Highlight des Sommers sind für Magnus und Titus die vier Wochen von Ende Juli bis Ende August auf der Hochalp auf ca. 2.000 m. Mehrmals im Sommer übersiedeln die Tiere auf frische Weiden in höhere Lagen. So bald sie sich an das Gelände gewöhnt haben, ist es die reinste Erholung für die Tiere, denn sie werden fitter und robuster und stärken durch die Luftveränderung ihr Immunsystem.

Auch die Fitness der Hirten verbessert sich kontinuierlich. So lange die Tiere auf den Weiden der Mittelalpe bleiben, heißt es jeden Tag um 6.00 Uhr aufstehen und von der Bärgunthütte aus wird zum Vieh aufgestiegen. An einem Tag kommt da einiges an Höhenmetern zusammen. Egal ob Sonnenschein oder Regen, sie verbringen den ganzen Tag bei der Herde. Achten darauf, dass kein Tier verloren geht oder sich verletzt, kontrollieren Weidezäune oder legen Hand an, wenn Sträucher, klein gewachsene Bäume und anderes Gewächs von den Alpflächen entfernt werden muss, damit Nutz- und Schutzfunktion erhalten bleibt.

Junghirten auf der Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Idylle auf der Hochalp

Am vorletzten Sonntag im Juli ist es dann soweit. Umzug auf die Hochalp. Es ist ein heißer Sommertag, mittags ziehen bereits dunkle Wolken auf, doch gestartet wird erst am späten Nachmittag, denn um die ganze Herde von der Mittelalp auf die Hochalp zu treiben, braucht es zahlreiche Helfer. Der Weg führt durch schwieriges Gelände, das auch so manchen Wanderer ziemlich fordert und vor allem das sogenannte „gesprengte Wegle“ ist eine Schlüsselstelle. Auf dem steinigen, schmalen Weg darf kein Fehler passieren, sonst droht die Tiefe der darunter liegenden Felswände. Ca. 25 Helfer, Freunde, Familie und Nachbarn, haben sich versammelt, als pünktlich um 16.00 Uhr der erste Regen tropfen fällt. Während das Vieh noch aus allen Richtungen und entlegenen Hängen zusammengetrieben wird, setzt sich eine Gruppe Haflinger im Galopp ab.

Innerhalb kürzester Zeit lassen sie den steilen Anstieg hinter sich und scheinen in der Weite des Hochgebirges zu verschwinden. Allmählich kommt auch Bewegung in die Viehherde. Freiwillig und zügig laufen die ersten Tiere vorweg und dann entfaltet die Gruppe ihre Dynamik und es geht ziemlich schnell voran. Mittlerweile gibt es aber auch kein Halten mehr für das ausgewachsene Sommergewitter, das mit Blitz und Donner und einem nicht enden wollenden Regenguss niedergeht. Titus ist mit einer der ersten Gruppen unterwegs. Doch die Hoffnung im Trockenen noch zur Hütte auf der Hochalp zu gelangen schwindet relativ schnell, als er entdeckt, dass einer der Weidezäune nachgegeben hat und die Tiere weiter in Richtung Widdersteinhütte laufen. Bevor er sich in der Hütte aufwärmen und trocken legen kann, müssen die entwischten Tiere eingefangen und die Zäune gerichtet werden.

Junghirten auf der Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Vier Wochen verbringen Tiere und Menschen jetzt auf dem höchstgelegenen Punkt des Alpgebiets Bärgunt. Die jungen Hirten lieben die Zeit auf der Hochalp. Sie finden, dass es dort etwas entspannter zugeht, als auf der Mittelalp. Die kleine gemütliche Hütte direkt unterhalb des Großen Widdersteins, bietet nicht viel Platz, ein gemeinsamer Wohnraum, ein Schlafzimmer und das Matratzenlager, das sie sich teilen. Aber sie scheinen alles zu haben, was sie brauchen. Auf die Frage, ob es etwas gibt, das sie hier oben vermissen, schauen einen nur verwunderte Augen an und ein verschmitztes Lächeln, das eine Antwort hinfällig werden lässt.

Sie scheinen die Einfachheit des Lebens, das sich am Rhythmus der Tiere und der Natur orientiert zu genießen – ganz ohne Fernsehen, Internet und Handy. Warme Duschen sind von den Sonnenkollektoren abhängig, so dass es durchaus passieren kann, dass es gerade dann, wenn man sich am meisten darauf freut, z.B. nach einem regnerischen Hüte-Tag, kein warmes Wasser gibt. Es gab aber auch schon Sommer, wo Sonnenkollektoren und auch das WC komplett ausgefallen sind und sie sich ursprünglicher Alternativen bedienen mussten.

Junghirten mit Vieh | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Auf der Hochalp bekommt das Team rund um Wolfgang Unterstützung von Marion Edlinger und ihrer Border Collie Hündin „Lea“. Während Marion sich vor allem um die hauswirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, unterstützt Lea als trainierter Hütehund die Hirten tatkräftig bei ihrer Arbeit. Um 7.00 Uhr ist es noch ruhig, nur Wolfgang steht schon vor der Hütte und späht mit dem Fernglas nach der Herde, die sich auf die umliegenden Hänge verteilt hat. Es ist ein mystischer Morgen, die Nacht über hat es geregnet, langsam brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Nebelschwaden und im Hintergrund erscheint der imposante Widderstein. Für die Burschen beginnt der Tag um 7.30 Uhr. Noch vor dem Frühstück holen sie die beiden Milchkühe, Bella und Frieda, und bringen sie zum Melken.

Während Magnus und Titus im Stall helfen und auch das Melkgeschirr wieder reinigen, versorgt Simon liebevoll ein etwas lahmendes Tier, das sich vor der Hütte ausruht und Martin geht die erste Runde. In regelmäßigen Abständen machen sich die Hirten auf den Weg, um die Tiere zu zählen und nach verdächtigen Spuren Ausschau zu halten. Mit der Zeit entwickeln sie einen Blick dafür, auf was man achten muss und ganz nebenbei werden sie jeden Tag etwas selbstständiger. Sie übernehmen Verantwortung für die ihnen anvertrauten Aufgaben, treffen eigene Entscheidungen und wissen, dass der Großhirte sich auf sie verlässt. Für Wolfgang sind die ihm überlassenen Tiere wie seine eigenen und alle wieder gesund zurück ins Tal zu bringen, ist ihm eine Herzensangelegenheit.

Frühstück auf der Hochalpe | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf: Andre Tappe

Die beliebte Bergtour rund um den Widderstein verläuft zu einem großen Teil durch das Weidegebiet der Alpe Bärgunt. Wanderer, die an der Hütte vorbeikommen, können sich für einen Moment vor der Hütte ausruhen und an das imposante Panorama genießen und mit einem Getränk oder Joghurt, das Marion aus der frischen Milch herstellt, stärken. Marion, selbst eigentlich auch gerne als Hirtin draußen unterwegs, ist für die Verpflegung verantwortlich. Für die Männerpension auf der Hochalp ein Geschenk, denn auch wenn die Küche klein und die Ausstattung mehr als einfach ist, zaubert sie jeden Abend herzhafte Mahlzeiten als Ausklang anstrengender Tage – ein Favorit der Hirten, die Älpler-Tacos. Nach dem Abendessen helfen Titus und Magnus noch beim Spülen und Aufräumen, manchmal geht sich noch eine Partie Kniffel aus, aber meistens sind sie so müde, dass sie sich mit Anbruch der Dunkelheit gerne unter ihre Bettdecken verziehen.

Spielt das Wetter mit, springen sie zwischen ihren Kontroll-Runden auch gerne mal in den Hochalpsee. Doch dafür muss es ein wirklich heißer Sommer sein. Stattdessen gab es dieses Jahr Mitte August sogar einen kleinen Wintereinbruch, eine brisante Situation für Vieh und Hirten. Zwar schmilzt der Schnee bald wieder, doch zunächst können die steilen Hänge zu einer gefährlichen Rutschpartie für die Tiere werden. In solchen Momenten profitieren die Junghirten von Wolfgangs jahrzehntelanger Erfahrung. Vieh treiben, vor allem unter so widrigen Verhältnissen, will gelernt sein und es braucht auch ein eine gute Portion Intuition, um zu erkennen, welchen Weg man wählt und wie man sich positioniert, um die Tiere sicher von einem Ort zum anderen zu treiben. Stichtag für den Umzug zurück ins untere Lager ist der 24. August, St. Bartholomä, und so trifft sich am vorletzten Sonntag im August wieder die ganze Helfermannschaft, um die Tiere zurück zur Mittelalpe zu bringen.

Junghirten auf der Bärgunt | © Kleinwalsertal Tourismus eGen | Fotograf Andre Tappe

Das große Finale - der Alpabtrieb

Die Sommerferien neigen sich dem Ende, eine Woche vor Schulbeginn kehren Titus und Magnus nach Hause zurück und gewöhnen sich langsam wieder an das Leben im Tal. Nach einem ausgiebigen Bad und ausgedehnten Entspannungsmomenten auf dem heimischen Sofa, finden die Mamas, dass langsam ein Friseurbesuch der heimgekehrten Söhne dringend notwendig wäre. Dagegen bleibt Wolfgangs Älplerbart noch mindestens bis zum Alpabtrieb am 19. September dran. Das Vieh grast jetzt wieder auf den Weiden in der Nähe der Bärgunthütte. Am Tag vor dem Alpabtrieb versammeln sich wieder alle Helfer und ihre Vorfreude auf das besondere Ereignis ist spürbar. 

Natürlich kommen auch Magnus und Titus zum letzten großen Einsatz des Alpsommers, um die Weideschellen der Tiere gegen die klangvollen Zugschellen auszutauschen. Die Schellen gehören Hirten und Bauern und in erster Linie haben sie eine emotionale Bedeutung für ihre Besitzer, je nach Größe und Verarbeitung sind sie aber bis zu 600 EUR wert. Mittlerweile kennen auch die Kleinhirten jedes der Tiere, können sie anhand ihrer äußeren Merkmale und individuellen Charaktere auseinanderhalten. Das Vieh von insgesamt 15 Bauern kehrt morgen wieder zurück in seine heimischen Ställe. 

Junghirten auf der Bärgunt | © Kleinwalsertal

Kurz nach Sonnenaufgang brechen sie am nächsten Tag mit der ganzen Herde auf und treiben sie von der Bärgunthütte zum Scheidplatz in Riezlern, wo die Tiere getrennt und von ihren Besitzern in Empfang genommen werden. Bis zum letzten Tag ist alles gut verlaufen, Wolfgang ist stolz, dass er jedem Bauern alle Tiere gesund zurückbringen kann. Die meisten vertrauen ihm schon seit vielen Jahren ihr Vieh an und es sind Freundschaften gewachsen, die er sehr schätzt. Kehren alle Tiere gesund ins Tals zurück, wird der Zug beim Alpabtrieb von einem aufwendig geschmückten Kranzrind angeführt.

Da die Herde der Alpe Bärgunt weit über 200 Tiere umfasst, sind es sogar zwei. Aber nicht nur das Vieh wird für den besonderen Tag herausgeputzt, auch die Hirten haben ihr Sonntagsgewand an und freuen sich nach dem letzten anstrengenden Dauerlauf von Baad bis nach Riezlern einen erfolgreichen Alpsommer ausklingen zu lassen. Als Dankeschön für ihren Einsatz bekommen die Kleinhirten von der Alpe Bärgunt ein Taschengeld und eine Schelle, die aufwendig graviert mit ihrem Namen und der Jahreszahl des Alpsommers versehen wurde. Ein wertvolles Erinnerungsstück, an einen Sommer, der ihnen so viele Erfahrungen und Erlebnisse geschenkt hat, die sie wohl ihr Leben lang begleiten werden.

Altkühe  | © Kleinwalsertal Tourismus eGen

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