Zwei Kleinhirten und ihr Sommer auf der Alpe Bärgunt
Titus Moosbrugger (11) und Magnus Huber (12) sind wieder auf die Alpe Bärgunt gegangen, um die größte Herde im Kleinwalsertal mit 280 Tieren zu hüten.
In den Städten hat Pokémon-Go im letzten Sommer viele Kinder in seinen Bann gezogen und auf die Jagd virtueller Monster geschickt. In den Walser Bergen dagegen haben einige Kinder und Jugendliche ihre Sommerferien als Hirten verbracht. Auch Titus Moosbrugger (11) und Magnus Huber (12) sind wieder auf die Alpe Bärgunt gegangen, um die größte Herde im Kleinwalsertal mit 280 Tieren zu hüten. Für Titus ist es bereits der vierte Sommer als Kleinhirte, für Magnus der dritte. Nüüs hat die beiden den Sommer über begleitet, um herauszufinden, warum sie so sehr für das Leben auf der Alp brennen und aus freien Stücken den Komfort zuhause für die Einfachheit in den Bergen aufgeben.
Der Klang der Schellen eilt der ersten Herde voraus und die jungen Hirten bringen sich, ausgerüstet mit ihren Stecken, in Position. Eine Herde nach der anderen trifft ein und bezieht die Weide unterhalb der Bärgunthütte. Etwas Unruhe liegt in der Luft: Bei den Tieren, die sich in der großen Herde mit vielen neuen Gesichtern akklimatisieren müssen und es zum Teil auch noch nicht gewohnt sind, frisches Gras zu fressen. Aber auch den Hirten ist eine leichte Anspannung ins Gesicht geschrieben. Noch kennen sie ihre Schützlinge und ihre Eigenheiten nicht, so landet Titus beinahe selbst im Bach, als er einen Ausreißer einfängt.
Seit der Besiedelung des Kleinwalsertal im 13. Jahrhundert war die Alpwirtschaft die wichtigste Versorgungsquelle der Walser. Alte Chroniken sprechen von der „Alpe als Brotkorb der Bauern“. Mit zunehmendem Tourismus in den 1950er-Jahren wurde die Alpwirtschaft als wichtigster Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber abgelöst. Viele Alpen wurden aufgelöst, auch weil es immer schwieriger wurde, für die anstrengende Arbeit auf der Alp Nachwuchs zu finden. Während es 1945 noch 50 bewirtschaftete Alpen waren, sind es heute nur noch 35 im Kleinwalsertal, wobei sich natürlich auch der Viehbestand deutlich verändert hat und die Anzahl der gehaltenen Milchkühe deutlich zurückgegangen ist. Für Wolfgang gab es aber nie eine Alternative. Sommer wie Winter draußen zu sein, seine Verbundenheit mit der Natur leben zu können und sich um die ihm anvertrauten Tiere zu kümmern, ist für ihn pures Glück. Und umso mehr freut er sich, dass mit Magnus und Titus und auch in seinen eigenen Reihen eine neue Generation Hirten heranwächst.
Auch die Fitness der Hirten verbessert sich kontinuierlich. So lange die Tiere auf den Weiden der Mittelalpe bleiben, heißt es jeden Tag um 6.00 Uhr aufstehen und von der Bärgunthütte aus wird zum Vieh aufgestiegen. An einem Tag kommt da einiges an Höhenmetern zusammen. Egal ob Sonnenschein oder Regen, sie verbringen den ganzen Tag bei der Herde. Achten darauf, dass kein Tier verloren geht oder sich verletzt, kontrollieren Weidezäune oder legen Hand an, wenn Sträucher, klein gewachsene Bäume und anderes Gewächs von den Alpflächen entfernt werden muss, damit Nutz- und Schutzfunktion erhalten bleibt.
Innerhalb kürzester Zeit lassen sie den steilen Anstieg hinter sich und scheinen in der Weite des Hochgebirges zu verschwinden. Allmählich kommt auch Bewegung in die Viehherde. Freiwillig und zügig laufen die ersten Tiere vorweg und dann entfaltet die Gruppe ihre Dynamik und es geht ziemlich schnell voran. Mittlerweile gibt es aber auch kein Halten mehr für das ausgewachsene Sommergewitter, das mit Blitz und Donner und einem nicht enden wollenden Regenguss niedergeht. Titus ist mit einer der ersten Gruppen unterwegs. Doch die Hoffnung im Trockenen noch zur Hütte auf der Hochalp zu gelangen schwindet relativ schnell, als er entdeckt, dass einer der Weidezäune nachgegeben hat und die Tiere weiter in Richtung Widdersteinhütte laufen. Bevor er sich in der Hütte aufwärmen und trocken legen kann, müssen die entwischten Tiere eingefangen und die Zäune gerichtet werden.
Sie scheinen die Einfachheit des Lebens, das sich am Rhythmus der Tiere und der Natur orientiert zu genießen – ganz ohne Fernsehen, Internet und Handy. Warme Duschen sind von den Sonnenkollektoren abhängig, so dass es durchaus passieren kann, dass es gerade dann, wenn man sich am meisten darauf freut, z.B. nach einem regnerischen Hüte-Tag, kein warmes Wasser gibt. Es gab aber auch schon Sommer, wo Sonnenkollektoren und auch das WC komplett ausgefallen sind und sie sich ursprünglicher Alternativen bedienen mussten.
Während Magnus und Titus im Stall helfen und auch das Melkgeschirr wieder reinigen, versorgt Simon liebevoll ein etwas lahmendes Tier, das sich vor der Hütte ausruht und Martin geht die erste Runde. In regelmäßigen Abständen machen sich die Hirten auf den Weg, um die Tiere zu zählen und nach verdächtigen Spuren Ausschau zu halten. Mit der Zeit entwickeln sie einen Blick dafür, auf was man achten muss und ganz nebenbei werden sie jeden Tag etwas selbstständiger. Sie übernehmen Verantwortung für die ihnen anvertrauten Aufgaben, treffen eigene Entscheidungen und wissen, dass der Großhirte sich auf sie verlässt. Für Wolfgang sind die ihm überlassenen Tiere wie seine eigenen und alle wieder gesund zurück ins Tal zu bringen, ist ihm eine Herzensangelegenheit.
Spielt das Wetter mit, springen sie zwischen ihren Kontroll-Runden auch gerne mal in den Hochalpsee. Doch dafür muss es ein wirklich heißer Sommer sein. Stattdessen gab es dieses Jahr Mitte August sogar einen kleinen Wintereinbruch, eine brisante Situation für Vieh und Hirten. Zwar schmilzt der Schnee bald wieder, doch zunächst können die steilen Hänge zu einer gefährlichen Rutschpartie für die Tiere werden. In solchen Momenten profitieren die Junghirten von Wolfgangs jahrzehntelanger Erfahrung. Vieh treiben, vor allem unter so widrigen Verhältnissen, will gelernt sein und es braucht auch ein eine gute Portion Intuition, um zu erkennen, welchen Weg man wählt und wie man sich positioniert, um die Tiere sicher von einem Ort zum anderen zu treiben. Stichtag für den Umzug zurück ins untere Lager ist der 24. August, St. Bartholomä, und so trifft sich am vorletzten Sonntag im August wieder die ganze Helfermannschaft, um die Tiere zurück zur Mittelalpe zu bringen.
Natürlich kommen auch Magnus und Titus zum letzten großen Einsatz des Alpsommers, um die Weideschellen der Tiere gegen die klangvollen Zugschellen auszutauschen. Die Schellen gehören Hirten und Bauern und in erster Linie haben sie eine emotionale Bedeutung für ihre Besitzer, je nach Größe und Verarbeitung sind sie aber bis zu 600 EUR wert. Mittlerweile kennen auch die Kleinhirten jedes der Tiere, können sie anhand ihrer äußeren Merkmale und individuellen Charaktere auseinanderhalten. Das Vieh von insgesamt 15 Bauern kehrt morgen wieder zurück in seine heimischen Ställe.
Da die Herde der Alpe Bärgunt weit über 200 Tiere umfasst, sind es sogar zwei. Aber nicht nur das Vieh wird für den besonderen Tag herausgeputzt, auch die Hirten haben ihr Sonntagsgewand an und freuen sich nach dem letzten anstrengenden Dauerlauf von Baad bis nach Riezlern einen erfolgreichen Alpsommer ausklingen zu lassen. Als Dankeschön für ihren Einsatz bekommen die Kleinhirten von der Alpe Bärgunt ein Taschengeld und eine Schelle, die aufwendig graviert mit ihrem Namen und der Jahreszahl des Alpsommers versehen wurde. Ein wertvolles Erinnerungsstück, an einen Sommer, der ihnen so viele Erfahrungen und Erlebnisse geschenkt hat, die sie wohl ihr Leben lang begleiten werden.
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